Texte

Meine zwei Köpfe

Ich habe zwei Köpfe:

Einen habe ich selbst gemacht, aus Haar und Lehm.

Den andern habe ich bekommen. Dieser ist mein erster Kopf. Er besteht aus Fleisch und Blut und anderem. Er ist auf meinem Hals platziert. Er ist die Zierde meines Körpers. Er denkt für mich, er schaut und riecht, er hört und staunt und ist ein Meisterwerk der Schöpfung. 

Aber manchmal ist es kompliziert mit meinem Kopf. Dann macht er, was er will und nicht was er soll.

Er macht in meinem Auftrag Gedanken. Und mehr als das: Mein Kopf denkt mich. Er bestimmt mich, gibt mir Anweisungen, findet mich komisch oder gut; er sagt mir, wie ich sein soll; er macht mich manchmal zappelig und beruhigt mich wieder. Er träumt und erfindet mich. Er gibt sich selbst Denkaufträge, ohne mich zu fragen, oder nimmt sie von anderen entgegen. Er funktioniert auf unterschiedlichen Ebenen, kompliziert und einfach. Er hat Macht, bestimmt aber nicht alles selbst. Er ist schön, er ist abhängig, er braucht Anstösse er braucht Futter. Was zwischen meinem Ohren passiert ist das, was mich ausmacht.

Was wäre ich ohne meinen Kopf – was?

Mein zweiter Kopf besteht aus Haar und Lehm. Belper-Coiffeursalon-Haar, Dorfmischung. Das Haar gehört also mir, ist aber nicht auf meinem Kopf gewachsen. Ich wollte eigentlich eine Kugel formen, allmählich hat sich die Idee eines Kopfes ergeben.

So konnte ich viel Haar platzsparend verwenden und den Lehm auch, der Christine, meine Frau, in seinem Herumliegen störte.

Nun steht der Lehm-Haar-Kopf im Garten. Zu Beginn erschien er als Lehmkopf. Der Regen machte ihn haarig. Er wusch den Lehm heraus und liess die Haare hervortreten. Je mehr sie das Bild bestimmten, desto mehr schützten sie den Lehm vor dem Aus-gewaschen-Werden. Der Lehm hält das Ganze weiterhin zusammen.

Beim Lehmkopf sind sie aufeinander angewiesen, der Lehm und das Haar. Ähnlich wie mein Kopf und ich.

PS: Ich habe ein Buch mit dem Titel „dein haar“ gemacht – ein Kunstbuch,  jawohl.

00

Einleitung

Meine Texte entstehen oft am Morgen. Ich bin dann frischer, mein Gehirn ist in Denklaune. Es erfreut sich an einer bemerkenswerten Beobachtung, brütet eine verdrehte Idee aus, sinniert über das Leben, über ein Bild aus einem Traum oder die Verwendung eines Wortes.

Rasch entwickelt sich etwas und – verschwindet unbemerkt wieder im Gewurstel des Tages oder zieht sich in die Windungen meines Denkorgans zurück.

Habe ich nun einen einen ruhigen Moment, einige ungestörte Minuten im Zug und ein Heft in Reichweite, dann schreibe ich. Ich schreibe gern; es tut mir gut, ich fühle mich lebendig. Da ich das hin und wieder mache,  schlummern einige Textideen in Agenden, Heften, schon abgetippt in den digitalen Tiefen meines Computers. Perlen, die s darauf warten, gehoben und poliert zu werden. Wenige haben den Weg in ein Fotobuch gefunden oder zeigen sich auf der Webseite. Einige wurden professionell von Céline Moos gesprochen. Das ist dann eine ausgesprochene Freude.

2022-03-03

01

Mein Schreiben

ist formen
Ich schreibe mich warm. 
Bewegung im Handgelenk, denn
Schreiben ist Hobeln, Schleifen, Leimen und Nageln.
Indem ich schreibe, gebe ich meiner Welt Form,
meinem Sein Gewicht
und meinem Leben Leichtigkeit und Würde.

Suchen ist das Schreiben auch
suchen und halten.
Wichtiges finden, binden und festnageln,
schreiben gegen das Vergessen.

Mal geht’s schnell. Wusch, ein Wurf, es fliesst  aus dem Kopf aufs Blatt und alles stimmt.
Meist aber ist es ein gemächliches, fast zögerliches Feilen am Text. Ein Dranbleiben.
So muss es wohl sein, so ist es.
Fertig ist es erst schwarz auf weiss gedruckt. Fertig ist es, wenn es mich nicht mehr interessiert.
Wann eigentlich ist es endlich fertig?

02

Ich bin schon …

.. ein bisschen aus der Form geraten, ein wenig schrumpelig, ich habe Patina angesetzt. Meine Haare sind desorientiert, wachsen lieber aus den Ohren und aus der Nase heraus, als auf dem Kopf. Meine Haut hat tausend Furchen und Falten und es ist klar, es werden noch mehr.

Kürzlich stand ich vor dem Spiegel: Bin ich schön? – Bin – ich – schön??
Ich forschte in meinem Gesicht, zerfurchte mir die Stirn. …
Bin ich – überhaupt –  was mir da entgegenschaut.
Oh du meine gute Seele! Wohnst Du denn in diesem alten Körper. Ist Dir wohl da drin? Bist Du das, bin ich das noch, das Morsche, Alte was niemand sein will.

Ja doch, keine Frage. Ich bin halt alt, einfach alt.

Ich habe doch gelebt und ich habe auch geliebt. Ich lernte zu sehen, zu lächeln, zu verstehen, zuzuhören. Ich lernte Nachsicht. Ich bin Mensch geworden. Allmählich und immer mehr. Kein Supermann, kein Genie, kein Grossmaul, einfach ein normal mittelprächtiger, manchmal etwas unsicherer Mann.

Ja – und ich lebe, unverfroren noch immer – und ich liebe: Meine Töchter, meine Frau, alle Frauen, meine Hühner, meine Freunde natürlich und die Vögel, die Gräser, das Schilf, den Holunder. Ja, ich liebe auch die Natur.
Und ich weiss, heute bin ich schöner als früher, zu Zeiten, als ich noch frisch war und jung und schon damals ganz schön schön. Natürlich!

Ich bin schön.

03

cet obscur objet

Seit wir hier sind, fallen sie uns ins Auge. Sie kommen von links, kommen von rechts, bemächtigen sich unserer Aufmerksamkeit, hängen am Arm eines Typen oder wandeln allein, hochstöckelnd daher stolzierende Frauen in Riga). 

Sie staksen, schreiten,  schlendern schwankend oder zackig auf ihren hohen Schuhen. Manche sind ausnehmend schön. Sie lassen mich schmunzeln, den Kopf schütteln, bringen mich ins Grübeln, lettische Frauen, hoch zu Fuss.

Es ist nicht leicht, ein schon etwas schrumpeliger, angegrauter Mann zu sein, der nicht mal ihre Sprache versteht, kaum ein Wort. Trotzdem bin ich betört von der Wucht ihrer Reize.

Jung möchte ich nochmal sein und mir eine dieser Schönheiten anlachen, mit ihr durch diese fremden Strassen ziehen. Einmal nur.

Ich träume also und schaue ich ihnen zu, vorerst. Scheu fotografiere ich dann, ich gebe es zu, die eine oder andere. Heimlich zuerst, dann etwas ungenierter, frage ich für ein Bild oder ein Porträt.

Wirklich markant sind die Grossen unter ihnen. Ich spreche nicht von denen, die sich kleiner machen wollen,  Kopf einziehen, flache Schuhe tragen. Nein, ich meine die, welche selbstbewusst daher kommen und ihre Grösse zelebrieren, mit sich und ihrer Naturstatur  im Reinen.

Die grossen Frauen von Riga beschreiten eine eigene Liga. Sie, unantastbar gross, haben die Übersicht. Sie geniessen es, andere zu überragen.

Das beeindruckt mich. Ihnen zuzuschauen ist mir eine Freude. Kein plumper Gedanke.

Sie scheinen freundlich, offen und selbstverständlich. Viele scheinen es besonders zu geniessen es, mit ihren Absätzen noch höher übers Pflaster zu erheben.

Ich möchte ein Fotoprojekt der Grossfrauen machen; sie haben etwas erhoben – erhabenes. Ich  könnte etwas verstehen von dieser weiblichen Wucht, möchte einfach einer von diesen stolzen Frauen ein Bisschen nahe zu sein. …

Aus dem Reisenotizbuch (9/2011), überarbeitet im August 2021

04

Alter Boden

In der Nachbarschaft, direkt vor unserer Türe wurde das Liechtiareal für eine Überbauung vorbereitet: Die bestehenden Gebäude wurden abgerissen, der Oberboden der Schafweide, also die Humusschicht entfernt und der Aushub gemacht. Der Boden, der sich seit der Eiszeit herangebildet hatte, der einige tausend Jahre ein Vegetationskleid getragen und Früchte hervorgebracht hatte, wurde eines Novembermorgens, noch in der Dunkelheit abgeräumt weggeführt und irgendwo deponiert.

Darunter  lag der Lehm, Ergebnis von tausenden Jahren Landschaftsgeschichte. Mächtige Lehmschichten, die nach dem Rückzug der Gletscher in dem nacheiszeitlichen See hier abgelagert wurden. Die Gürbe brachte das Material, der See verlandete: Uferzonen, Schilfgürtel, Auenwald und dann eine dorfnahe Weide bilden die tausende Jahre alte Basis für diese Humusschicht.

Weg damit, ausgebaggert und fortgeführt.

Wir haben dieses Stück Land noch als Wiese und Schafsweide vor unserer Haustüre erlebt. Diese Landschaftsgeschichte wurde innert kürzester Zeit ausradiert und das, ohne dass sich der Mensch, dass wir uns wirklich bewusst sind, was hier getan wurde.

Ein Untergang der mich nachdenklich stimmt. Etwas Selbstverständliches ist vorbei: Vierzehntausend Jahre Bodenaufbau und tausende Jahre Fruchtbarkeit.

10.  Dezember 2009, 30.4.2015